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«Die Regierung» – auf Lebzeiten gewählt

Ebnat-Kappel/SG. «Die Regierung» ist eine heilpädagogische Grossfamilie der besonde-ren Art, ein Künstlerkollektiv mit eigenem Gastrobetrieb.

In Ebnat-Kappel wird von fünf behinderten und zwei „normal behinderten“ Menschen vorgelebt, dass nur regieren kann, wer sich selbst regiert.
Ebnat-Kappel liegt auf 650 Metern Höhe mitten im Toggenburg. Die romantische Gebirgsland-schaft, die grandiose Kulisse der sieben Churfirsten, des Speers und des Säntismassivs, so-wie das Thurtal prägen die Landschaft. Hinter den sieben Bergen lebt eine heilpädagogische Grossfamilie, die sich „Die Regierung“ nennt.
1981 war die Geburtsstunde des aussergewöhnlichen Projekts. Heinz Büchel und seine Frau entschieden sich, einer Gruppe von fünf geistig und körperlich behinderten Männern eine selbstverwaltete Zukunft zu ermöglichen. Inzwischen hat sich die visionäre Idee zu einem nachhaltigen Projekt mit Modellcharakter entwickelt.

„Wir erkannten, dass sich spätestens mit 18 Jahren die Möglichkeiten der individuellen Förde-rung erschöpfen“, erzählt Heinz Büchel, der damals im Schulheim Kronbühl arbeitete. Als Er-wachsene würden die meisten Behinderten in geschützte Werkstätten eingegliedert, wo sie nicht selten monotone Beschäftigungsprogramme erwarten.

Musik als gemeinsame Sprache

Franco Scagnet, der Polizeiminister der Regierung, wäre als gehörloser Autist in einem Heim für Schwerbehinderte gelandet. In Ebnat-Kappel hält er den Besuchern Zettel und Bleistift ent-gegen. „Er möchte, dass ihr eure Namen und Geburtsdaten aufschreibt“, sagt Helena Schmid Büchel, einziges weibliches Mitglied der Regierung. Franco Scagnet führt seit langem eine Kartei und erfasst jeden, der ihn besucht.
Im Künstlerkollektiv „Die Regierung“ sorgt er für den richtigen Rhythmus. Die Musik entwickel-te sich zur gemeinsamen Sprache der Gruppe. Sie dient der Kommunikation und die unter-schiedlichen Persönlichkeiten haben gelernt, sich dadurch auszudrücken.
„Die Regierung“ hat bewiesen, dass Behinderung auch eine besondere Form von Begabung sein kann: Musik machen ist nicht nur Demonstrieren von Virtuosität.  „Der musikalische Fun-dus eröffnet grenzenlose Möglichkeiten, untereinander auf diversen Ebenen zu kommunizie-ren“, sagt Heinz Büchel, der in St. Gallen die Jazzschule besuchte.
Die Regierung ist schweizweit bekannt durch Theaterproduktionen (Die behinderte Regierung, Autofahren, Lift, Halbtraum), unzählige Konzerte und den Dokumentarfilm „Die Regierung – Montag, Dienstag, Mittwoch und zurück…“.  Irène Schweizer, Werner Lüdi, Polar, Max Lässer oder Peter Weber sind nur einige Künstler, mit denen das Kollektiv zusammengearbeitet hat.

Arbeiten in der selbstverwalteten „Fabrik“
Die fünf Behinderten verbindet mit den „normal behinderten“ Heinz Büchel und Helena Schmid Büchel nicht nur die Liebe zur Improvisation, seit 28 Jahren teilen sie auch Haus und Herd: als Regierung, in der jeder sein Amt verwaltet und darin zugleich Eigenständigkeit und die Fähig-keit zur Gemeinschaft unter Beweis stellt.
Martin Baumer, er hat ein Down-Syndrom, ist in intakten Familienverhältnissen aufgewachsen bis er in der Pubertät Wutanfälle bekam. Bei der Regierung ist er der Gesundheitsminister. Bereits nach dem Morgenessen begibt sich die ganze Truppe zum täglichen Fitnesslauf an der Thur.
Gearbeitet wird in einer ehemaligen Textilfärberei. „Die Fabrik“ dient als Wohnraum, Lebens- und Arbeitsplatz. Das Kollektiv bewirtet und bekocht Gesellschaften, gibt als „Die Regierung“ Konzerte und schafft in den Atelierräumen Bilder und Objekte.

„Es ist uns wichtig, dass auch geistig behinderte Menschen eine Beschäftigung ausüben, die Sinn macht und die andernorts von nichtbehinderten Menschen ausgeübt wird“, sagt Helena Schmid Büchel. Es gehe darum, die Behinderten in ihren Stärken zu unterstützen und sie nicht zur „Normalität“ zu zwingen.
Jedes Regierungsmitglied hat seine Ämtchen: Frühstück zubereiten, Abwasch machen, Ein-käufe besorgen und Gäste bewirten. Gitarrist Massimo Schilling wischt gerade den Boden. Die ersten vier Jahre seines Lebens verbrachte er in gut 20 Pflegefamilien.
Im Toggenburg hat er endlich Wurzeln schlagen können. Trotzdem reist der Aussenminister für sein Leben gern. Wie kürzlich nach Paris. Auf Einladung des befreundeten Künstler-Duos Lutz&Guggisberg spielte „Die Regierung“ drei Konzerte im Centre culturel suisse.

Kein Behinderten-Bonus
„Wir wollen keinen Behinderten-Bonus“, sagt Heinz Büchel, Berater der Regierung. Ausser den Renten und Ergänzungsleistungen der Bewohner fliessen seit 2005 keine öffentlichen Gelder mehr in das Projekt. Das Kollektiv bestreitet sein Budget mit den Einnahmen aus dem Gastrobetrieb, Bilderausstellungen und Konzertauftritten.
Die Grossfamilie will deutlich machen, dass nur regieren kann, wer sich selbst regiert. 2003 zum 200-Jahr-Jubiläums des Kantons St. Gallen kam es gar zu einem „Regierungsaustausch auf Zeit“: Die St. Galler Kantonsführung und das Künstlerkollektiv tauschten die Rollen.
Notiz an die Redaktion:
Key-Bilder

St.GallenSt.Gallen / 08.09.2009 - 10:24:01